AUTOREN

Stephen Dover, CFA
Head of Franklin Templeton Institute

Larry Hatheway
Global Investment Strategist
Franklin Templeton Institute

Kim Catechis
Investment Strategist,
Franklin Templeton Institute
Dieser Artikel wurde ursprünglich im LinkedIn-Newsletter „Global Market Perspectives“ von Stephen Dover veröffentlicht. Folgen Sie Stephen Dover auf LinkedIn, wo er seine Gedanken und Kommentare sowie seinen Newsletter mit globalen Marktperspektiven veröffentlicht.
Die europäischen Volkswirtschaften und Märkte hinken den USA seit mehr als einem Jahrzehnt hinterher. Die landläufige Meinung ist die, dass sich Europa in einer anhaltenden Misere befindet.
Und nun kommt Europa plötzlich wieder mehr Aufmerksamkeit zu. Die Märkte in der Region haben die USA und andere Länder Anfang 2025 hinter sich gelassen. Könnte dies der Beginn von etwas Großem sein? Könnte sich Europa über längere Zeit stark zeigen? Und sollten Anleger ihre Einschätzung in Bezug auf Europa überdenken?
Wir denken schon. Dies ist jedoch mit gewissen Risiken verbunden, von denen das größte wohl eine Eskalation der globalen Handelskriege wäre, die erhebliche Konjunkturschwäche oder sogar eine Rezession zur Folge hätte.
Kurswechsel in Deutschland
Die erste Frage, die sich stellt, ist, warum Europa gerade jetzt die Aufmerksamkeit der Anleger auf sich zieht.
Hauptgrund ist die Hoffnung auf umfangreiche fiskalische Stimuli – vor allem für die nationale Verteidigung und Infrastruktur – und die Erwartung, dass diese das Konjunkturwachstum und die Gewinnaussichten in Europa beflügeln werden.
Tatsächlich hat sich der Wachstumsausblick für Europa aufgehellt. Zu verdanken ist dies den geld- und fiskalpolitischen Stimulusmaßnahmen, die als doppelte Katalysatoren fungieren.
Der Inflationsrückgang in den vergangenen beiden Jahren hat es der Europäischen Zentralbank ermöglicht, die Zinsen seit 2024 sechsmal zu senken (jeweils um einen Viertelpunkt). Und schon bald dürften die schweren Geschütze in Form fiskalischer Lockerungsmaßnahmen seitens Deutschlands und der Europäische Union (EU) als Ganzes aufgefahren werden.
Als Reaktion auf den innen- wie auch außenpolitischen Druck hat die erwartete neue deutsche Koalitionsregierung aus CDU/CSU und SPD gemeinsam mit den Grünen ein Gesetz durch den Bundestag und den Bundesrat zur Änderung der in der Verfassung verankerten Schuldenbremse gebracht. Alles, was jetzt noch fehlt, ist die Unterschrift des Bundespräsidenten, was unseres Erachtens jedoch eine reine Formalität darstellt.
Durch die Änderungen der Vorschriften bezüglich der Staatsverschuldung will die neue Koalitionsregierung umfangreichen Spielraum zur Erhöhung der Ausgaben für die nationale Verteidigung und Sicherheit sowie die öffentliche Infrastruktur schaffen.
Insbesondere hat die neue deutsche Regierung in Aussicht gestellt, in den kommenden Jahren 500 Mrd. EUR (was beachtlichen 11,6 % des Bruttoinlandsprodukts [BIP] entspricht) für die nationale Verteidigung, Sicherheit und Infrastruktur aufzuwenden, wovon 50 Mrd. EUR für die Energiewende in Deutschland vorgesehen sind. Darüber hinaus unterliegen Investitionsausgaben für die Verteidigung, die 1 % des BIP übersteigen, nun nicht mehr der Schuldenbremse.
Schätzungen legen nahe, dass insgesamt etwa 400 Mrd. EUR (9,3 % des BIP) für die nationale und europaweite Verteidigung geplant sind.1 Diese ohnehin schon enormen fiskalischen Ausgaben werden auf gesamteuropäischer Ebene etwa doppelt so hoch ausfallen, da die EU Neuinvestitionen für Militär, Verteidigung und nationale Sicherheit in ähnlich großem Umfang in Aussicht gestellt hat.
Zum Vergleich: Mit Ausnahme der im Zuge der COVID-19-Pandemie verabschiedeten Stimuli dürften die geplanten neuen Ausgaben jegliche, auf beiden Seiten des Atlantiks in der Nachkriegszeit ergriffenen fiskalpolitischen Stimulusmaßnahmen in den Schatten stellen.
Unseres Erachtens können die historischen und wirtschaftlichen Auswirkungen dessen, was Europa möglicherweise bevorsteht, gar nicht genug hervorgehoben werden.
Dieser bahnbrechende Schritt Deutschlands gibt der Europäischen Kommission Rückendeckung, welche die EU-Mitgliedstaaten dazu anhält, ihre Ausgabenvorschriften zu lockern, damit die Investitionen in Verteidigung und Infrastruktur auch im Rest der Region erhöht werden können.
Darüber hinaus schafft die fiskalische Unterstützung der EU Anreize für Investitionen in europäische Firmen, worin die wachsende Erkenntnis zum Ausdruck kommt, dass die Vereinigten Staaten (und die Regierung Trump im Besonderen) mittlerweile einen weniger zuverlässigen militärischen Verbündeten darstellen. Als Folge dürfte die Industrie in Europa wieder erstarken, hat sie doch zuletzt bereits von einem Wettbewerbsvorteil in Form niedrigerer Strompreise profitiert.2
Die Europäische Kommission hat überdies den Plan „ReArm Europe“ vorgestellt, der den EU-Mitgliedstaaten fiskalischen Spielraum einräumt, um ihre nationalen Verteidigungsausgaben um 1,5 % pro Jahr zu erhöhen, was einem Umfang von 650 Mrd. EUR über vier Jahre hinweg entspricht. Der Plan umfasst auch eine neue Kreditfazilität in Höhe von weiteren 150 Mrd. EUR für Investitionen der EU in die Verteidigung.
Sollten diese Initiativen realisiert werden, würde dies die Aktivität im öffentlichen wie auch im Privatsektor erheblich ankurbeln. Entsprechend haben verschiedene öffentliche und private Stellen ihre Prognosen für das reale BIP in Deutschland und Europa insbesondere für 2026 deutlich nach oben korrigiert.
So rechnet das Kiel Institut für Weltwirtschaft beispielsweise damit, dass fiskalische Impulse von mehr als 1 % des BIP in Deutschland das BIP-Wachstum des Landes von beinahe 0 % in diesem auf 1,5 % im nächsten Jahr beflügeln würden. Dies wäre der stärkste Aufschwung seit der Pandemie.3 Die Folgewirkungen für den Rest des Euroraums dürften das gesamteuropäische Wachstum bis 2026 um beinahe einen halben Prozentpunkt ankurbeln.
Dagegen wurden die Schätzungen zum BIP-Wachstum in den USA jüngst nach unten korrigiert, was der deutlichen Zunahme der Unsicherheit bezüglich der Wirtschaftspolitik der USA (z. B. sprunghafte Zollankündigungen und Entlassung von Staatsbediensteten) geschuldet ist.
Gewinne und Bewertungen in Europa
Für Anleger ist die Aufwärtskorrektur der Schätzungen zum realen BIP-Wachstum in Europa von großer Bedeutung. Die Rentabilität ist äußerst zyklischer Natur und verbessert sich, wenn die reale Wirtschaftstätigkeit anzieht. Zu beachten ist dabei, dass die Gewinnschätzungen für Europa sowohl auf absoluter Basis als auch im Vergleich zu den USA steigen. Im vergangenen Monat wurden die Konsensprognosen für die Gewinne in Europa und Deutschland beispielsweise um 5 % bis 12 % angehoben. Indes kam es bei US-Unternehmen (gemessen am S&P 500 Index) laut FactSet allgemein zu Abwärtskorrekturen bei den Gewinnen, die zudem stärker ausfielen als dies in der Regel im ersten Quartal eines Jahres der Fall ist.4
Die steigenden Gewinnerwartungen veranlassen die Anleger dazu, das Wertpotenzial der europäischen Aktienmärkte neu zu bewerten. Europäische Aktien, die mit Blick auf die Wertentwicklung über lange Zeit hinter den globalen Aktienmärkten zurückgeblieben sind, weisen im Allgemeinen einen Abschlag von 30-40 % gegenüber ihren US-Pendants auf.5 Angesichts der direktionalen Entkopplung der Gewinnschätzungen könnten die niedrigeren Bewertungen in Europa unseres Erachtens aber allmählich Schnäppchenjäger auf den Plan rufen.
Europäische Sektoren
Wenig überraschend haben jene europäischen Sektoren, die am ehesten von den höheren Staatsausgaben für Verteidigung, Sicherheit und Infrastruktur profitieren dürften, dieses Jahr deutlich zugelegt. Dazu zählen Unternehmen aus den Bereichen Luft- und Raumfahrt, Verteidigungsaufträge und Informationstechnologie. Darin spiegelt sich auch die sich wandelnde Anlegerhaltung in den USA und andernorts zugunsten von Sektoren, Stilen und Unternehmen wider, die in den letzten Jahren, als der Markt hauptsächlich von den „Glorreichen Sieben“ angeführt wurde, unterdurchschnittlich abgeschnitten haben.6 Europa profitiert somit nicht nur von höheren Wachstums- und Gewinnerwartungen, sondern auch von einer zunehmenden Bereitschaft der Anleger, ihre Engagements zu diversifizieren.
Risiken für den Ausblick
Wie eingangs erwähnt besteht das größte Risiko unseres Erachtens in einer Eskalation der Zollkriege, wodurch das Vertrauen in die Wirtschaft und die Finanzmärkte untergraben werden könnte, was wiederum einen deutlichen Konjunkturabschwung oder gar eine Rezession nach sich ziehen könnte.
Wie anderen Investoren fällt es auch uns schwer, die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation des Handelskrieges zu quantifizieren. Anlass zur Sorge gibt dabei nicht etwa eine starke Exportabhängigkeit Europas von den USA (auf das Land entfallen bei den meisten europäischen Ländern weniger als 10 % der Ausfuhren), sondern die Unsicherheit, mit der sich alle Volkswirtschaften im Falle eines Handelskrieges gegenübersehen würden.
Ein zweites Risiko bezieht sich auf die Bereitschaft in Europa, den neuen fiskalischen Spielraum für höhere Ausgaben zu nutzen. Denn Politiker machen ja oftmals Versprechen, die sie mitunter nicht halten.
Das diesbezügliche Risiko scheint jedoch geringer zu wiegen. Die Wahrnehmung Russlands als Bedrohung liegt in Europa zweifelsohne im Krieg zwischen Russland und der Ukraine begründet. Und für die Region stellen die Vereinigten Staaten mittlerweile einen weniger zuverlässigen Verteidigungspartner dar. Daher scheint es Europa unseres Erachtens mit seinen Bestrebungen um gemeinsame Verteidigung und Sicherheit tatsächlich ernst zu meinen.
Schlussfolgerungen für Anleger
Abschließend stellt sich die Frage, ob es nicht bereits zu spät ist, sich die positive Kehrtwende an den europäischen Märkten zunutze zu machen. Immerhin hat Europa bereits Anfang 2025 deutlich zugelegt. In den ersten drei Monaten des Jahres hat der breite europäische Aktienindex (Stoxx 600) ein Plus von 8,5 % verzeichnet, während der S&P 500 um 3,5 % nachgab.7 Dies markiert einen erheblichen und ungewöhnlichen Ertragsunterschied von 12 Prozentpunkten.
Unserer Ansicht nach reicht dies aber nicht aus, um Anleger davon abzuhalten, sich Europa zuzuwenden.
In der Wertentwicklung des Marktes im bisherigen Jahresverlauf kommt die Bewertung von Faktoren zum Ausdruck, die nun zugunsten der Region wirken – darunter das anziehende Konjunkturwachstum und der sich verbessernde Gewinnausblick, günstigere Bewertungen und die höhere Gewissheit für Anleger. Dies sind die unseres Erachtens größten Vorteile, die Europa dieses Jahr im Vergleich zu den USA aufweist.
Kurz gesagt richtet sich das Anlegerinteresse wieder verstärkt auf die „alte Welt“. Unserer Analyse zufolge ist dieser Umschwung gerechtfertigt und befindet sich noch in der Anfangsphase.
Für Anleger ist es unserer Ansicht nach somit an der Zeit, Engagements in Europa in Erwägung zu ziehen.
Endnotes
- Quelle: Eurostat. Analyse des Franklin Templeton Institute. Es gibt keine Garantie dafür, dass sich Schätzungen, Prognosen oder Projektionen als richtig erweisen werden.
- Quelle: Catechis, Kim, und Kosinska, Karolina. „Eine Analyse: Könnte sich Europa einen strukturellen Vorteil mit günstiger Elektrizität sichern?“ Februar 2025.
- Quelle: „Konjunkturbericht.“ Kiel Institut für Weltwirtschaft.
- Quelle: „Analysts Making Larger Cuts Than Average to EPS Estimates for S&P 500 Companies for Q1.“ FactSet. 28. Februar 2025. Indizes werden nicht gemanagt und es ist nicht möglich, direkt in einen Index zu investieren. Gebühren, Kosten oder Ausgabeaufschläge sind in den Indizes nicht berücksichtigt. Die Wertentwicklung der Vergangenheit ist kein Indikator für die zukünftigen Renditen. Weitere Informationen zum Datenanbieter finden Sie unter www.franklintempletondatasources.com. Es gibt keine Garantie dafür, dass sich Schätzungen, Prognosen oder Projektionen als richtig erweisen werden.
- Quelle: Bloomberg.
- Die „Glorreichen Sieben“ sind Alphabet, Amazon, Apple, Meta, Microsoft, Nvidia und Tesla.
- Quelle: Bloomberg, Stand: 20. März 2025. Der Stoxx Europe 600 wurde von STOXX Ltd erstellt und bildet europäische Aktien ab. Der Index weist eine feste Anzahl von 600 Komponenten auf, die Unternehmen mit hoher, mittlerer und geringer Marktkapitalisierung aus 17 europäischen Ländern repräsentieren, und deckt damit rund 90 % der Marktkapitalisierung der im Streubesitz befindlichen Aktien am europäischen Markt (nicht auf die Eurozone beschränkt) ab. Indizes werden nicht gemanagt und es ist nicht möglich, direkt in einen Index zu investieren. Gebühren, Kosten oder Ausgabeaufschläge sind in Indizes nicht berücksichtigt. Die Wertentwicklung der Vergangenheit ist kein Indikator für die zukünftigen Renditen. Weitere Informationen zum Datenanbieter finden Sie auf www.franklintempletondatasources.com.
WO LIEGEN DIE RISIKEN?
Alle Anlagen sind mit Risiken verbunden, ein Verlust des Anlagekapitals ist möglich.
Beteiligungspapiere unterliegen Kursschwankungen und sind mit dem Risiko des Kapitalverlusts verbunden.
Internationale Anlagen sind mit besonderen Risiken verbunden. Hierzu gehören Währungsschwankungen sowie gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Unsicherheiten, die zu erhöhter Volatilität führen können. Diese Risiken sind in Schwellenländern noch größer. Anlagen in Unternehmen eines bestimmten Landes oder einer bestimmten Region können einer größeren Volatilität unterliegen als Anlagen, die geografisch breiter gestreut sind.
Unternehmen im Infrastruktursektor können einer Vielzahl von Faktoren ausgesetzt sein, darunter hohe Zinskosten, hohe Verschuldung, die Auswirkungen von Konjunkturabschwüngen, verschärfter Wettbewerb und die Auswirkungen staatlicher und regulatorischer Maßnahmen und Praktiken.
Alle Unternehmen und/oder Fallstudien im vorliegenden Dokument dienen lediglich der Veranschaulichung. Eine Anlage wird derzeit nicht unbedingt in einem von Franklin Templeton empfohlenen Portfolio gehalten. Die bereitgestellten Informationen stellen weder eine Empfehlung noch eine individuelle Anlageberatung in Bezug auf bestimmte Wertpapiere, Strategien oder Anlageprodukte dar und sind kein Hinweis auf Handelsabsichten für ein durch Franklin Templeton verwaltetes Portfolio.
