CIO VIEWS
AUTOREN

Sonal Desai, Ph.D.
Chief Investment Officer,
Portfolio Manager
Erinnern Sie sich an das Sprichwort: „Don’t fight the Fed“ (Kämpfe nicht gegen die US-Notenbank an)? Für lange Zeit galt es als eine Schlüsselweisheit der Finanzmärkte, die von den erfahreneren Händlern an die jüngeren weitergegeben wurde – ein Mantra, das in unzähligen Medieninterviews zitiert wurde. Wenn die US-Notenbank (Fed) ankündigte, etwas zu tun, und man wettete dagegen, so die Weisheit, würde man Geld verlieren.
Inzwischen scheint diese Weisheit heute keine Gültigkeit mehr zu haben. Als die Fed signalisierte, dass sie sich zu einer lockeren Geldpolitik entschlossen habe, stand dies außer Frage. Doch jetzt, wo die Zentralbank ihre Absicht bekundet, die Geldpolitik noch eine ganze Weile straff zu halten, sind die meisten Anleger durchaus bereit, dagegen zu wetten. Die Märkte preisen gegenwärtig erhebliche Zinssenkungen ein – um mehr als einen Prozentpunkt zwischen jetzt und Januar nächsten Jahres. US-Staatsanleihen legten erneut kräftig zu, und zwar auch als Reaktion auf einen Bericht über die am Verbraucherpreisindex (VPI) gemessene Inflation für April, der zeigt, dass die Gesamt- und die Kerninflation weitgehend stabil bei etwa 5 % bzw. 5,5 % liegen (konkret: 4,9 % für die Gesamtinflation).
Die Märkte haben im Verlauf dieses Straffungszyklus meist gegen die Fed angekämpft, sei es, indem sie einen niedrigeren Höchstzinssatz, eine frühere Umstellung auf eine Lockerung der Geldpolitik oder deutliche Zinssenkungen prognostizierten. Haben die Märkte etwa recht?
Märkte rechnen mit Zinssenkungen ab September

Marktpreise anhand der Federal Funds Futures. Quellen: Franklin Templeton Fixed Income Research, Federal Reserve Bank of New York, CME Group, Macrobond. Es gibt keine Garantie dafür, dass sich Schätzungen oder Prognosen bewahrheiten. Weitere Informationen zum Datenanbieter finden Sie unter www.franklintempletondatasources.com.
Dieses Tauziehen zwischen den Märkten und der Fed spiegelt auch die große Verunsicherung wider, vor der wir bei Franklin Templeton Fixed Income schon vor geraumer Zeit gewarnt hatten – die Verunsicherung über das makroökonomische Umfeld und die geldpolitische Reaktion.
Aus meiner Sicht gibt es drei Schlüsselelemente, die diese Verunsicherung ausmachen und letztlich darüber entscheiden werden, ob die Anleger sich mit dem Falschen angelegt haben.
Erstens: Die Wachstumsaussichten. Eine Wette auf deutliche Zinssenkungen bis Anfang nächsten Jahres macht Sinn, wenn man davon ausgeht, dass die Wirtschaft in eine sehr starke Rezession abgleiten wird. Ich halte ein solches Szenario nach wie vor für unwahrscheinlich. Ja, die Wirtschaft hat mit anhaltend negativen Impulsen zu kämpfen: höhere Zinsen, der inflationsbedingte Kaufkraftverlust und in jüngster Zeit die Turbulenzen im Bankensektor.
Insgesamt jedoch beweist die US-Wirtschaft nach wie vor eine beeindruckende Widerstandsfähigkeit. Insbesondere der Konsum der privaten Haushalte ist unverändert robust; der Arbeitsmarkt entwickelt sich weiter positiv: Die Arbeitslosenquote lag im April bei 3,4 % und war damit ebenso wie im Januar die niedrigste seit Mai 1969.1. Überdies erreichte die Beschäftigungsquote für Menschen im Haupterwerbsalter (25-54 Jahre) nahezu den höchsten Stand aller Zeiten. Was die Aussichten für die US-Unternehmen anbelangt, so scheint es, als würden weder die Aktienmärkte noch die Kreditspreads der Unternehmen einen Einbruch erwarten müssen. Die jüngsten Turbulenzen im Bankensektor haben das Risiko einer größeren Kreditverknappung, die das Wirtschaftswachstum beeinträchtigen könnte, eindeutig erhöht. Dieses Risiko ist nicht von der Hand zu weisen: Das deutlichste Indiz für diese Gefahr ist derzeit jedoch ein deutlicher Rückgang der Aktienkurse von Regionalbanken. Das ist zwar besorgniserregend, enthält aber noch keinen Hinweis auf eine allgemeine Kreditklemme. Aus der Senior Loan Officer Opinion Survey on Bank Lending Practices (SLOOS), einer Umfrage, die von der Fed durchführt wird, geht nach wie vor lediglich eine schrittweise Verschärfung der Kreditvergabestandards hervor. Eine tiefe Rezession würde eine rasche Kurskorrektur der US-Notenbank rechtfertigen. Allerdings ist dies weder wahrscheinlich, noch scheint es das zu sein, wovon die Risikomärkte ausgehen.
Zweitens: Inflation und der Realzinssatz. Angenommen, die Inflation geht schneller zurück als erwartet. Dies könnte eine Kehrtwende rechtfertigen. Dazu müsste die Inflation jedoch erheblich und rasch sinken, damit die Zinssenkungen, die der Markt einpreist, möglich werden. In den Wirtschaftsprognosen vom März ging der Offenmarktausschuss (FOMC) davon aus, dass die Kerninflation der persönlichen Konsumausgaben (PCE) bis Ende dieses Jahres zwischen 3,5 % und 3,9 % liegen würde. Der entsprechende Leitzins wurde auf über 5 % (5,1 % bis 5,6 %) geschätzt, was in etwa dem derzeitigen Niveau von 5,00 % bis 5,25 % entspricht.
Der letzte Wert für die PCE-Kernrate (März) lag bei 4,6 %. Selbst wenn die Fed aufgrund der Turbulenzen im Bankensektor zu einer gewissen geldpolitischen Lockerung ansetzen wollte, müsste die PCE-Kernrate rasch und deutlich unter 3 % sinken, damit die US-Notenbank eine Zinssenkung um mehr als einen Prozentpunkt für angemessen erachtet. Auch das ist nicht unmöglich, aber aus meiner Sicht unwahrscheinlich. Der soeben veröffentlichte Bericht über den Verbraucherpreisindex (VPI) für April bestätigt, dass die Desinflation nach wie vor unerträglich langsam voranschreitet: Sowohl der Wert für die Gesamt- als auch die Kerninflation stieg gegenüber dem Vormonat um 0,4 %. Beide Werte sanken um lediglich 0,1 % auf 4,9 % bzw. 5,5 %.
Die Kerninflation im Dienstleistungssektor (ohne Wohnungsbau) ging deutlicher zurück, da die sinkenden Preise in den Segmenten Hotels, Flugtickets, Restaurantbesuche und Haushaltseinrichtung darauf hindeuteten, dass sich die Verbraucher bei ihren Kaufentscheidungen etwas zurückhalten könnten. Aber das ist nur ein Datenpunkt: An anderer Stelle ziehen die Preise für Kerngüter weiter an. Bei diesem Tempo ist es noch ein langer und weiter Weg zurück zu 2 %. Beachten Sie auch, dass bei diesen Zahlen der Leitzins kaum über der Gesamtinflation liegt. Ja, man sollte den Realzinssatz anhand der erwarteten Inflation berechnen, die niedriger ist. Aber bei allen bisherigen erfolgreichen Desinflationen war es erforderlich, den Leitzins über die gleichzeitige Inflation zu bringen – und diesen Punkt haben wir gerade erst erreicht. Noch einmal, die Fed sollte es mit Zinssenkungen nicht eilig haben, selbst wenn die Desinflation langsam voranschreitet.
Das dritte Element der Verunsicherung betrifft das Durchhaltevermögen der US-Notenbank bei der Inflationsbekämpfung. Die Fed hat in den letzten anderthalb Jahrzehnten zuverlässig eine sehr gemäßigte Haltung eingenommen. Dies könnte die Anleger zu der Annahme verleiten, dass die Fed, sobald der Inflationsdruck nachgelassen hat, wieder eine gemäßigte Haltung einnehmen wird, um die Risiken für das Wachstum und die Asset-Preise zu minimieren. Die Verlautbarungen der Fed im Verlauf dieses Zinserhöhungszyklus haben zuweilen Anlass zu der Annahme gegeben, dass dies tatsächlich der Fall sein könnte.
Die Zeiten haben sich jedoch geändert. Die Inflationsängste haben sich bereits als ernster und hartnäckiger erwiesen, als die Fed ursprünglich erwartet hatte. Hinzu kommt, dass die jüngsten Turbulenzen im Bankensektor eine deutliche Warnung vor den Risiken für die Finanzstabilität darstellen, die als Folge einer übermäßig lockeren Geldpolitik entstehen können. Insgesamt gibt es eine viel größere Akzeptanz hinsichtlich der Einsicht, dass, dass die Geldpolitik, auch wenn sich die Inflation wieder dem Zielwert nähert, nicht auf das Notstandsniveau der Zeit nach der globalen Finanzkrise und der Pandemie zurückkehren sollte.
Fazit: Da ein Teil der makroökonomischen Verunsicherung schwindet, werden wir meiner Einschätzung nach weitere Belege dafür erhalten, dass die Wirtschaft allmählich auf eine leichte und nicht auf eine tiefe Rezession zusteuert und dass die Fortschritte, die bei der Desinflation erzielt werden, nach wie vor quälend langsam ausfallen werden. Sollte dies der Fall sein, könnten die Finanzmärkte feststellen, dass sie sich mit dem Falschen angelegt haben und auf ihre eigene alte Weisheit hätten hören sollen: Kämpfe niemals gegen die US-Notenbank an.
- Quelle: Bureau of Labor Statistics. Arbeitslosenquote im April, Stand: 5. Mai 2023
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